Neues Gutachten zur inklusiven Beschulung in Nordrhein-Westfalen – Bewertung der Situation in Berlin
Erstellt
Thema
von Melanie Weiland
Unter den Titel „Mogelpackung Inklusion? Gutachten deckt auf, warum es immer mehr Kinder mit dem Stempel „förderbedürftig“ gibt“ berichtete das Bildungsmagazin News 4Teachers im Mai über ein aktuelles Gutachten im Auftrag des nordrheinwestfälischen Bildungsministeriums. In diesem wird deutlich, dass offenbar immer mehr Kinder den Stempel „sonderpädagogisch förderbedürftig“ bekommen, weil Schulen sich davon mehr Unterstützung erhoffen. Wir berichten über das Gutachten und ordnen die Situation für Berlin ein.
Das multiperspektivische Gutachten mit dem Titel "Wissenschaftlicher Prüfauftrag zur steigenden Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung " wurde auf Grund steigender Schülerzahlen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in NRW in Auftrag gegeben und durch Professor*innen der Universitäten Duisburg- Essen, Bielefeld, Wuppertal und Dortmund umgesetzt.
Ziel des Ministeriums war es, Anregungen und Analysen zu erhalten für eine Reform des Schulsystems, welches durch anhaltende Auswirkungen der Corona-Pandemie und des Lehrkräftemangels stark belastetet ist.
Eigentliche Ursachen liegen im überforderten System
Das Gutachten kommt zu aufrüttelnden Ergebnissen: Demnach werden die sogenannten AOSF-Verfahren (sonderpädagogischen Gutachten in den Schulen) hauptsächlich eingeleitet, um Entlastung an Schulen zu schaffen und Verantwortung zu verschieben. Die Ursachen für steigende Schülerzahlen mit sonderpädagogischen Förderbedarf liegen im Schulsystem selbst und werden beschrieben mit
- "Bedarf an Entlastung in allgemeinen Schulen",
- "prekäre Ressourcensituation im Regelsystem und gemeinsamen Lernen" sowie
- "Homogenitätsdruck/geringe Flexibilität im Regelsystem".
Die Autor*innen sehen einen dringenden Handlungsbedarf.
Bei Analyse der Gutachten wird klar, dass die bisher verwendeten Verfahren nahezu ausschließlich die Problemlagen der Schüler*innen betrachten und individuelle Fördermöglichkeiten ableiten, der Blick auf das Gesamtsystem jedoch sowohl bei der Analyse als auch bei den Lösungsansätzen bisher fehlt.
In den unterschiedlichen Teilbereichen der Studie kommen die Wissenschaftler*innen zu wesentlichen Optimierungsvorschlägen:
- Verbesserung der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte insbesondere im Bereich Mehrsprachigkeit, Digitalisierung, Gutachtenerstellung und Innovation
- Einrichtung einer regionalen Beratungsstelle
- Kürzung und Vereinheitlichung der Verfahren mit klaren Verfahrensstandard und Fristen
- Ausbau präventiver Maßnahmen bereits im Vorschulbereich
- Informationsmaterial für Erziehungsberechtigte
Situation in Berlin – unsere Sicht auf das System
Auch in Berlin ist die steigende Anzahl von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Bedarf spürbar. Anders als in NRW verfügen die einzelnen Bezirke über regionale Beratungsstellen, den SIBUZ (Schulpsychologische und Inklusionspädagogisches Beratungs- und Unterstützungszentrum).
Das berlineinheitliche sonderpädagogische Feststellungsverfahren ist ebenso umfangreich, nicht digitalisiert und kann sich deswegen über Monate hinziehen.
Im Berliner Verfahren fließt zwar die Ausstattung der Schule an Personal, Räumen etc. mit in das Gutachten ein, jedoch werden dabei die statistischen Zahlen erhoben und nicht die tatsächlichen vor Ort – beispielsweise fließen Langzeiterkrankungen oder aktuelle Erweiterungen der Schule durch mobile Ergänzungsbauten nicht mit ein. Und auch in Berlin ist der präventive Bereich unzureichend finanziert. Die sogenannte verlässliche Grundausstattung an Berliner Schulen berücksichtigt bisher unzureichend Schüler*innen mit besonderen Bedarfen und reagiert nicht auf aktuelle Problemlagen, wie die Corona-Auswirkungen oder wachsende Klassenstärken.
Gute Ansätze, aber noch ein weiter Weg zur Inklusion
Das Berliner Schulsystem liefert zwar Ideen und Ansätze zur inklusiven Beschulung, wie beispielsweise den Einsatz von Schulassistent*innen durch die Senatsverwaltung oder den Einsatz von pädagogischen Unterrichtshilfen, dennoch sind die Ressourcen weiterhin bemessen auf die individuellen Schüler*innen mit Bedarf und führen zu Stigmatisierung. Die Lösungsansätze werden nicht entsprechend der Idee der Inklusion und Prävention unkompliziert bewilligt, sondern unterliegen langen Antragswegen und dem Nachweis von Gutachten und Paragraphen.
Diese Problemlagen veranlassen Erziehungsberechtigte, zusätzlich zu den Unterstützungsmaßnahmen des Schulsystems, individuelle Schulassistenzen beim Jugendamt zu beantragen, um das Recht auf schulische Teilhaben für ihre Kinder durchzusetzen. Die bürokratische Überregulierung, die damit einhergeht, verlangt viel von den Erziehungsberechtigten, Schulen und Trägern, die die entsprechenden Hilfen dann umsetzen.
Entgegenwirken könnte dem aktuellen Geschehen eine auskömmliche Finanzierung und Grundausstattung der Schulen mit multiprofessionellen Teams, Entscheidungsfreiheiten und Raum für innovative Umsetzungsideen der Lehrkräfte, Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften inklusive Entschlackung und Verkürzung von Einstellungsverfahren in den Schulen.
0 Kommentare
Teilen
Ihr Kommentar